BEGEHREN
Wir leben in einer sexualisierten Gesellschaft. Werbung muss sexy sein, „50 Shades of Grey“ muss man gesehen haben, Sex ist Lifestyle. Und natürlich ist jeder in gewisser Weise ein Experte in Sachen Sexualität. In diesem Sinne lässt Gesine Schmidt in ihrer „dokufiktionalen Feldforschung“ – der Text ihres Hörspiels entstand auf der Basis von Interviews – sechs Menschen zwischen 26 und 75 Jahren, unterschiedlichen Geschlechts und sexueller Präferenz erzählen: von ihrem Verlangen, von Bedürfnissen und Fantasien, von Ängsten und Scheitern, von One-Night-Stands, Beziehungshopping, Langzeitaffären, festgefahrenen Ehen und Einsamkeit.
Erstsendung: 25.05.2018 | rbb-kulturradio | 49′
Credits
Regie: Andrea Getto
Musik: Sabine Worthmann
Redaktion: Juliane Schmidt
Mit: Rainer Bock, Marina Frenk, Patrick Güldenberg, Wilfried Hochholdinger, Jutta Hoffmann, Katharina Marie Schubert
https://hoerspiele.dra.de/vollinfo.php?dukey=4952454&SID
Kritik
Die Begierde der anderen
Wahrhaftigkeit steckt – natürlich – auch in fiktiven Werken, nicht nur in dokumentarischen. Manchmal wird sie in solch einer künstlichen Realität sogar besser ersichtlich. Gesine Schmidt hat das zu ihrem Stilprinzip gemacht: Sie recherchiert akribisch, führt eine Menge Interviews – und dieses Material verdichtet sie dann zu Texten für die Bühne und das Radio. Sie nennt das doku-fiktionale Feldforschung.
Nun ist ihr wieder ein starkes Stück gelungen mit „Begehren“, einem Hörspiel für den Rundfunk Berlin-Brandenburg. Und wieder hat ihr sehr geholfen, dass sie über den Umweg der Verfremdung den Realitäten sehr nahegekommen ist. Auch in „Begehren“ sind die Interviewten nicht persönlich zu hören – Schauspieler haben sich ihrer Aussagen angenommen. Haben ihnen dabei in der Regie von Andrea Getto alles Verdruckste, Zögerliche, Lavierende ausgetrieben, aber auch alle Großmäuligkeit. Und so hören wir sechs Menschen zwischen Mitte zwanzig und Mitte siebzig über ihre sexuellen Begehren sprechen. Auch das ist typisch für Schmidt: Es wird nicht alles zu einem einzigen Mischmasch, die einzelnen Figuren sind immer noch erkennbar und voneinander abgrenzbar. Sie werden aber nicht so stilisiert, dass sie zu Stellvertreter-Typen mutieren. Durch die Verdichtung, Sortierung sowie nicht zuletzt die bedachtsame Interpretation durch Rainer Bock, Marina Frenk, Patrick Güldenberg, Wilfried Hochholdinger, Jutta Hoffmann und Katharina Marie Schubert entsteht eine Nähe, die nie aufdringlich wird.
Man findet sich wieder in den Erzählungen über sexuelle Bedürfnisse und Fantasien, über das Scheitern, über One-Night-Stands und Langzeitaffären, festgefahrenen Beziehungen und Einsamkeit. Es gibt dabei keinen Moment des Fremdschämens, auch nicht des Voyeurismus. „Begehren“ belässt seinem Thema die Intimität, die ihm innewohnt. Und legt doch sehr viel Scheu ab. Um zur Sprache zu bringen, was oft unausgesprochen bleibt. (Stefan Fischer für CULT, das Online-Magazin des Studiengangs Kulturkritik an der Theaterakademie August Everding)